Viele Männer und Frauen halten Monogamie für selten oder sogar widernatürlich. Liebe, denken andere, sollte eher multipliziert als geteilt werden. Und manche sind einfach nur neugierig, wie es wohl wäre, wenn sie die eigene Beziehung durch Hinzuziehung weiterer Partner ein bisschen öffnen und beleben könnten.
Viele wollen, aber nur wenige trauen sich
Alleine sind sie mit diesen Gedanken und Fantasien bei weitem nicht. Mehrere Studien und Umfragen bestätigen ein Bild: Etwa ein Drittel aller Männer und mindestens 15 Prozent aller Frauen sind von der Idee einer offenen Beziehung fasziniert. Dagegen leben nur etwa fünf Prozent aller Paare das auch wirklich aus. Überraschend ist das eher weniger, denn die Idee der offenen Beziehung ist mit einem Paradox verbunden: Die meisten Frauen und Männer hätten in ihrem Leben gern eine unbegrenzte Anzahl an sexuellen und emotionalen Partnern. Aber teilen wollen sie diese nicht.
Damit ist klar, dass sich nur äußerst wenige trauen, viele Sicherheiten aufzugeben und eine solche Partnerschaft wirklich wahr werden zu lassen. Dabei ist auf dem Weg zu solch einem – möglicherweise Augen öffnenden – Lebens-Experiment nur ein großer Gegner zu besiegen: die Eifersucht.
Was genau ist eine Offene Beziehung?
Um ehrlich zu sein, ist es natürlich unmöglich, etwas, was „offen“ sein soll, durch eine Definition einzugrenzen. Was eine offene Beziehung am Ende ausmacht, hängt vor allem von den Sichtweisen der beteiligten Personen ab. Allgemein lässt sich aber sagen, dass offene Beziehungen das Konzept der Monogamie und damit der unbedingten emotionalen wie sexuellen Treue ablehnen. Allerdings gibt es in allen Formen immer auch ein Kernpaar, die eine wirkliche Beziehung pflegen, dazu aber verschiedene zusätzliche Teilnehmer innerhalb ihrer Partnerschaft mehr oder weniger offen akzeptieren.
Die wohl älteste Form der offenen Beziehung ist die sogenannte Menage a trois, die Dreiecksbeziehung, bei der ein Partner (in der Vergangenheit war es immer der finanziell unabhängigere) Beziehungen zu zwei Partnern unterhält, während diese keine Beziehung zueinander unterhalten. Diese Form des Zusammenlebens war meist Künstlern vorbehalten und für Normalsterbliche kaum vorstellbar. 1972 veröffentlichte das amerikanische Schriftstellerpaar Nena und George O’Neill das Buch „Open Marriage“. Die Popularität führte dazu, dass in der Folge auch in Fernsehdiskussionen über alternative Lebensstile diskutiert wurde.
Heute gibt es verschiedene Formen der offenen Beziehung. Dazu gehört das sogenannte „Swingen“ bei dem heterosexuelle Paare mit anderen heterosexuellen Paaren männlich-weibliche und weiblich-weibliche Sex-Konstellationen ausprobieren. Ebenfalls möglich ist die zuletzt immer stärker diskutierte Polyamorie. Hier wird sogar das primäre Paar abgelehnt, die LGBT-Community mit einbezogen und zahlreiche Teilnehmer unterhalten völlig gleichwertige emotionale und sexuelle Beziehungen.
Was mögliche Unterschiede zwischen der offenen Beziehung im klassischen Sinne und der Polyamorie sind, erörtern wir von CarlMarie im zweiten Teil zu dieser Thematik. Am Ende gibt es heute vor allem in großstädtischen Räumen eine Ausgeh-Struktur, zu der Sexpositive Parties und andere Spielarten gehören, in denen die althergebrachten Vorstellungen von Paarbeziehungen kaum noch eine Rolle zu spielen scheinen.
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Wie funktioniert eine Offene Beziehung und bin ich überhaupt der Typ dafür?
Wer es mit einer offenen Beziehung probieren will, muss sich zunächst fragen: „Will ich meinen Partner wirklich mit weiteren Personen teilen und wenn ja, in welchem Umfang und welcher Offenheit?“ Manche Menschen haben den Wunsch, fast alles zu teilen, während andere eher stark auf sich und ihre eigenen Bedürfnisse fixiert sind, gern alles ausleben würden, dabei aber kaum bereit sind, die langfristige Intimität ihrer Beziehung einem vergänglichen sexuellen Reiz zu opfern. Wer von sich weiß, eher anfälliger für Eifersucht zu sein, wird es mit der gleichberechtigten Umsetzung einer offenen Beziehung schwer haben.
Dem „Gefährlichen“ muss ohne Furcht und ohne Abhängigkeit begegnet werden
Die offene Beziehung hat zwei wichtige Fundamente: feste Regeln und Vertrauen. Denn jede Beziehung, auch die offene, braucht ein für alle Beteiligten gültiges Regelwerk. Dabei gibt es kein wirkliches „Richtig“ und kein wirkliches „Falsch“. Entscheidend ist viel mehr, dass beide Partner bei allen Vereinbarungen auf derselben Seite stehen. Zu den zu regelnden Bereichen sollte in jedem Fall gehören, wer mit wem, wann und wie lange zusammen ist. Was passiert, wenn eine engere emotionale Bindung entsteht und wie schnell der Partner von aktuellen Veränderungen innerhalb des Beziehungsmodells in Kenntnis gesetzt werden soll. Die Zustimmung zu diesen Regeln und Vereinbarungen ist für beide Parteien von entscheidender Bedeutung.
Wenn die Macht ungleich verteilt ist und zum Beispiel eine Person mehrere Partner will, während die andere Person das Gefühl hat, dass sie nicht nein sagen kann, ist das Modell zum Scheitern verurteilt. Alle Beteiligten sollten sich von Anfang an frei entscheiden können, ohne vor vollendete Tatsachen gestellt zu werden. Dazu trägt auch positiv bei, wenn alle Teilnehmer frei vom Druck ökonomischer Abhängigkeiten sind. Denn diese verstärken Verlustängste und damit auch Aggressionen. Dem „Gefährlichen“ muss ohne Furcht begegnet werden können. Denn keine Frau und kein Mann dieser Welt lässt sich in eine glückliche, gesunde offene Beziehung hinein drücken oder zwingen.
Welche Gefahren lauern in der offenen Beziehung?
Die meisten Männer und Frauen segeln innerhalb einer offenen Beziehung in ihnen unbekannten Gewässern. Es gibt keine generationsübergreifenden Erfahrungsmodelle und keine tradierten Regeln. Um so wichtiger ist es, dass vereinbarte Regeln ständig auch der Realität angepasst werden können. Und das funktioniert nur, wenn die primären Partner kommunikativ bleiben und sich ständig über ihre Sorgen und Ängste austauschen. Dabei darf auch nicht vergessen werden, dass Paare innerhalb einer offenen Beziehung mit den unbestreitbaren Vorteilen der Monogamie konfrontiert werden. Dazu gehört, dass sich monogamisch lebende Frauen und Männer nachweislich deutlich stärker mit ihren Kindern beschäftigen.
Ein weiterer unerwarteter Effekt der offenen Beziehung kann es sein, dass Menschen sich bei Kontakt mit anderen Menschen und deren anderen Sichtweisen und zum Beispiel auch sexuellen Vorlieben oder Kommunikationsmitteln verändern und beginnen, weitere Regionen ihrer Persönlichkeit zu entdecken. Das kann dazu führen, dass sich die Balance innerhalb der offenen Beziehung verschiebt und aufgestellte Regeln neu verhandelt werden müssen. Am Ende ist jeder Teilnehmer innerhalb der offenen Beziehung aufgefordert, ständig für sich zu formulieren, welche Prioritäten er innerhalb seines Bedürfnissystems setzt.
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Kann man innerhalb einer Offenen Beziehung Kinder erziehen?
Grundsätzlich ist es so, dass mehr Erwachsene, die harmonisch an der Erziehung von Kindern mitwirken, eher einen positiven Effekt auf deren Entwicklung haben. Mehr Erwachsene bedeuten potentiell, mehr Zeit, mehr Energie, mehr Liebe und mehr Ressourcen für die Kinder. Offenheit, solide Kommunikationsfähigkeiten, Mitgefühl und Liebe sind entscheidende Bausteine einer guten Elternschaft. Dabei ist es eben auch hier von überragender Bedeutung, dass Kinder nicht in die Mühlsteine widerstreitender Interessen geraten und darüber hinaus nicht mit Lügen und Halbwahrheiten, sondern mit großer Klarheit hinsichtlich der herrschenden Verhältnisse konfrontiert werden.
Nur so ist eine stabile Orientierung ohne das berühmte „Double-Binding“ möglich. Ein Nachteil der offenen Beziehung ist es sicherlich, dass den Kindern von einem Erwachsenen nicht soviel Zeit geschenkt wird. Dafür lernen diese mehrere Bezugspersonen mit unterschiedlichen Lebensmodellen kennen. Das kann dazu führen, dass diese Kinder nicht nur eine andere Sex-Positivität entwickeln, sondern darüber hinaus stärker ihre eigenen Körper und Herzen und auch die Körper und Herzen anderer respektieren können.
Im zweiten Teil unseres Beitrags dreht sich alles um die Frage:
Polyamorie vs. offene Beziehung – Suchst Du mehr Liebe oder mehr Sex?
freier Journalist für die Berliner Zeitung, Mitteldeutsche Zeitung und das CarlMarie Magazin