Der Mut, Grenzen zu sprengen und bis dato Unerhörtes zu versuchen, begleitete Jean Paul Gaultier bereits, als er noch nicht mal volljährig der Mode-Branche seine erste Aufwartung machte. Während Anfang der 1970er Jahre der normale Ausbildungsweg eines Fashion-Designers aus langen Tutorials und anstrengenden Bewerbungsinterviews bestand, verzichtete der erst 17-Jährige ganz auf eine formelle Modelehre und schickte seine ersten Zeichnungen, Entwürfe und Skizzen lieber gleich direkt zum einflussreichsten Modezaren dieser Zeit: Pierre Cardin. Dem gefiel, was er sah, so dass er dem jungen Gaultier ein Angebot machte, bei ihm zu arbeiten. Und zwar immer nach der Schule, was dazu führte, dass der seine Prüfungen nicht bestand. Ein verkraftbares Desaster, denn das Zeugnis seiner Befähigung sollte fortan nicht mehr aus Zensuren bestehen.
Ein BH für den Teddybären
Jean Paul Gaultier war am 24. April 1952 in Arcueil, nur wenige Kilometer nördlich von Paris als einziges Kind eines Buchhalters und einer Kassiererin zur Welt gekommen. Den Großteil seiner Kindheit verbrachte er bei seiner Großmutter, in deren Kleiderschrank er auch die erste Inspiration für seine Mode fand. Denn im besonderen Maße faszinierten ihn die Korsetts. Sein Interesse für Damenunterwäsche war so groß, dass er für seinen Teddybären einen BH anfertigte (der später als Artefakt aus seiner Kindheit auch in Ausstellungen über seine Arbeiten gezeigt wurde.) Nach eigenen Aussagen gab es für Jean Paul Gaultier in seiner Kindheit zwei Lieblingsbeschäftigungen: Modemagazine durchblättern und Fernsehen gucken. Das eine half ihm auch in seiner späteren Karriere stets über die Geschichte und Gegenwart der Haute Couture auf dem Laufenden zu bleiben. Das andere schärfte schon früh seine Sinne für die Geheimnisse der Pop-Kultur.
Erste eigene Kollektion: Ballerinas, mit Lederjacken und Turnschuhen kombiniert
Unter den Fittichen Pierre Cardins perfektionierte der junge Designer sein Handwerk schnell und arbeitete für ein Jahr auch unter den beiden anderen namhaften Couturiers seiner Zeit, Jacques Esterel und Jean Patou. Doch schon 1976 sah er die Zeit gekommen, seinen eigenen Fußabdruck in der Modewelt zu hinterlassen. Die erste Kollektion bestand aus einer Sammlung von Ballerina-Röcken, die Jean Paul Gaultier mit Lederjacken und Turnschuhen kombiniert hatte. Der belgische Modedesigner Martin Margiela, der zu dieser Zeit noch Student war, erinnerte sich später in der Vogue, dass er beim Besuch der Vorstellung von einer Aufregung gepackt worden sei, die „ich zuvor noch nie gespürt hatte.“ 1985 wurde Margiela Gaultiers Assistent, gründete zwei Jahre später sein eigenes Modehaus und erzielte durch seine intellektuell-avantgardistischen Kreationen selbst internationale Bekanntheit.
Der böse Bube der Modewelt
Ab Ende der 1970er Jahre investierten Gaultier und sein Lebensgefährte Francis Menuge erhebliche finanzielle Mittel, um der eigenen Marke auf die Beine zu helfen. Aber erst der Einstieg der japanischen Bekleidungsfirma Kashiyama gab den benötigten Kickstart für die internationale Karriere. Finanziell mehr oder weniger unabhängig konnte Jean Paul Gaultier nun ohne Kompromisse seine Ideen durchsetzen. Dabei vertraute er als erster Mode-Designer überhaupt vollkommen auf die Einflüsse von Street Culture, Pariser Club-Szene und Gay-Underground. Die meisten Menschen empfanden Gaultiers Mode zu diesem Zeitpunkt als zu bizarr und zu dekadent. Aber führende Mode-Journalisten der Mode-Magazine „Elle“ und „Marie Claire“ glaubten an den Durchbruch und setzten den jungen Designer immer wieder in Szene. Gaultier trug nun oft seinen Marken-Kilt und den bretonischen Streifenpullover und wurde schnell das weltweit bekannte „enfant terrible“ der Modebranche. Eines seiner Markenzeichen war dabei, dass er früh mit Geschlechterrollen und sozialen Stereotypen spielte. Auf seinen Shows, die er gegen die Traditionen in einer alten Lagerhalle am Rande von Paris präsentierte, traten nun Alte, Übergewichtige, Gepiercte und sogar Behinderte auf. Muskelprotze trugen nicht nur schottische Kilts wie er selbst, sondern bodenlange Röcke und Frauen übergroße Power-Anzüge. Gaultiers Mode war selbst für die 1980er Jahre so schockierend und exzentrisch, dass seine Präsentationen immer wieder öffentliche Skandale produzierten. Heute sind Inklusion, Vielfalt und Geschlechterneutralität längst state of the art, doch in den Anfangsjahren von Jean Paul Gaultier glichen sie einer Revolution.
Die 1990er machen Gaultier zu einer Ikone der Popkultur
Jean Paul Gaultiers erfolgreichstes Jahrzehnt begann mit einem schweren persönlichen Verlust, als sein langjähriger Lebensgefährte Francis Menuge an AIDS starb. Die Trauer bekämpfte der erst 38-Jährige mit intensiver Arbeit als Kostüm-Designer für Madonnas Blond Ambition Tour. Der konische BH (Cone Bra) sowie diverse Korsetts und Anzüge machten Madonna endgültig zur Queen of Pop und auch den Kreator der Stücke weltberühmt. „Mir war zu diesem Zeitpunkt eigentlich nicht klar, dass diese Arbeiten so bedeutend werden würden“, erinnerte sich JPG später. „Ich war ein Fan von Madonna und hatte mich deshalb auf die Zusammenarbeit gefreut und dabei gar nicht daran gedacht, dass das gut für meine Karriere werden könnte.“
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Der weltberühmte Flakon von „Le Male“
1995 setzte Jean Paul Gaultier im wahrsten Sinne des Wortes die nächste Duftmarke. Sein erstes Herren-Parfüm „Le Male“ wurde vor allem wegen seines Flakons weltberühmt und ist ein bis heute bekannter Klassiker. Das Gefäß hat die Form eines Männer-Torsos, dessen weiße Streifen für den typischen Matrosen-Look sorgen. Und JPG setzte nach: 1994 widmete er seine Kollektion „Tatoués et percés“ den Tätowierten und Gepiercten, die damals noch wirklich am Rande der Gesellschaft standen und eher an eine okkulte Sekte als an den Mainstream der Gesellschaft von heute erinnerten. Gaultier präsentierte die Outlaws in einer bunten und ausgelassenen Parade aus Nachtgestalten, Freunden, Models und indischen Bindis. Im selben Jahr sorgte er für den bis heute „Best Dressed“- Moment der Geschichte von MTV, als er die Europe Music Awards in bunt bestickten Shorts und einem darüber getragenen schwarzen und transparenten Kaftan moderierte.
Eurotrash und „Das fünfte Element“
Gaultiers Kreativität schien nun komplett befreit und in jede erdenkliche Form der Populärkultur zu fließen. Mit der eigenen TV-Sendung „Eurotrash“ sprengte der Franzose alle Formen des guten Geschmacks und lieferte die Blaupause für ähnliche Formate in ganz Europa. Und auch im Film fand Gaultiers Fantasie ihre Spielwiese. Schon 1989 hatte er in Peter Greenaways „Der Koch, der Dieb, seine Frau und ihr Liebhaber“ nahezu jedem Charakter eine dunkel glamouröse Aura verliehen. Doch den wirklichen Höhepunkt stellt Luc Bessons Kultklassiker „Das fünfte Element“ dar. Die futuristische Mode von Cyborgs, Außerirdischen und eines virilen Bruce Willis war schon eine berauschende Mischung aus Kitsch und Retro. Doch das weiße „Nichts“ am Körper von Milla Jovovich wird wohl für immer in die Annalen der Filmgeschichte eingehen.
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Keine Pläne für die Zukunft
Jean Paul Gaultier war allerdings nicht nur in Sachen Zukunft überaus stilsicher, sondern konnte auch immer wieder mit außergewöhnlichem Wissen auf vergangene Mode-Epochen zurückgreifen: Korsetts aus dem 19. Jahrhundert wurden kurzerhand zur Oberbekleidung umfunktioniert. Madonnas Cone Bra hatte seine Vorbilder in den 1950er Jahren, seine Seidenblusen im Viktorianischen Zeitalter und Haremshosen in den 1930er Jahren. Gaultier hat die Zukunft der Mode in der Zeit vor der Jahrtausendwende entscheidend mitgeprägt, indem er phantastische Elemente der Vergangenheit mit der bitteren Realität der Gegenwart vermischte. Dabei verströmt fast alles, was der Modedsigner kreierte, diese für ihn so typische gute Laune und einen unwiderstehlichen Optimismus. „Ich habe immer viel Glück gehabt. Mir ist eigentlich alles mehr zugefallen. Das soll auch so bleiben“, erklärte er in mehreren Interviews seinen Frohsinn. „Pläne für die Zukunft habe ich keine.“
Kidman und Cotillard in Gaultier-Kleidern bei der Oscar-Verleihung
Im Gegensatz zu vielen seiner Kollegen scheint Jean Paul Gaultier ein glücklicher Mensch zu sein. In den letzten Jahren ist es auch deshalb um ihn so ruhig geworden, weil er sich mehr und mehr den Standards der Modeindustrie und dem Burnout der Branche verweigert. Bereits 2010 hatte er für Hermès eine letzte Kollektion gestaltet. Gaultier war vorher sieben Jahre Chefdesigner des Pariser Luxushauses gewesen, während das Unternehmen zwischenzeitlich über die Hälfte der Anteile an Gaultiers eigener Firma verkauft hatte. Durch Gaultier war Hermès auch bei vielen Prominenten, darunter Naomi Watts, Marion Cotillard und Nicole Kidman populär geworden. Sowohl Kidman (2003) als auch Cotillard (2008) trugen Gaultier-Kleider, als sie ihre Oscars in Empfang nahmen. Auch ansonsten blieb JPG eher hinter den Kulissen aktiv. So entwarf er die Kostüme für Kylie Minogues X Tour (2008) und für Pedro Almodóvars Filme „Schlechte Erziehung“ (2004) und „Die Haut, in der ich wohne“ (2011). Im selben Jahr entwarf er für „La Perla“ seine erste Bademodenkollektion und wurde 2012 zum neuen Creative Director von Diet Coke ernannt. Er trat damit unter anderem in die Fußstapfen von Karl Lagerfeld, der ebenfalls neue Flaschendesigns für Diet Coke entworfen hatten.
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Noch einmal Madonna – auf dem Eurovision Song Contest in Tel Aviv
Bahnbrechende Mode gelingt dem mittlerweile 67-jährigen Jean Paul Gaultier nur noch selten. Dafür konnte er sich in den letzten Jahren noch ein paar extravagante Träume verwirklichen. So fertigte er 2016 für die „The One Grand Show“ im Berliner Friedrichstadt-Palast über 500 extravaganten Kostüme an. Die Show war mit elf Millionen Euro die teuerste Produktion in Europas größtem Revue-Theater und bei Kritikern überaus umstritten. Ähnlich zwiespältig fiel die Meinung über Gaultiers Einsatz beim Eurovision Song Contest in Tel Aviv aus. Dort hatte ihn seine alte Muse Madonna um Hilfe gebeten. Doch sowohl die Performance als auch die Kostüme der Queen of Pop konnten das Publikum nicht überzeugen. Allerdings scheint Jean Paul Gaultier damit besser leben zu können, als seine ebenso berühmte Freundin. Auf die Frage, wie groß er seine Rolle in der Modewelt heute einschätzt, antwortete Jean Paul Gaultier wie immer gut gelaunt: „Ich bin schon lange kein Rebell mehr. Nur noch ein ganz kleiner, ein halber vielleicht.“ Seiner Rolle in der Geschichte der Mode wird damit allerdings nicht geringer. Jean Paul Gaultiers Lust an der Provokation, seine Vorliebe für Street- und Clubwear und seine Brechungen von Geschlechterstereotypen haben die Mode von heute überraschender und lustiger gemacht.
freier Journalist für die Berliner Zeitung, Mitteldeutsche Zeitung und das CarlMarie Magazin