Wir von CarlMarie wollen in diesem Teil unserer Serie zu „30 Jahre deutsche Wiedervereinigung“ einige der interessantesten Wiederbelebungen beschreiben und fünf Gewinner der deutschen Einheit vorstellen:
Leipzig – die am schnellsten wachsende Großstadt Deutschlands
Leipzig hat in den vergangenen 30 Jahren zweifellos eine der größten Achterbahnfahrten des Ostens hingelegt. In den 1990er Jahren war die ehemalige Messestadt im Nordwesten Sachsens zunächst ein Mekka der Immobilienspekulanten. Immerhin war Leipzig vor dem 2. Weltkrieg überaus wohlhabend und mit über 700.000 Einwohnern Deutschlands fünftgrößte Stadt gewesen. Die Bausubstanz war zwar marode aber voller Potential. Geräumige Gründerzeitwohnungen lockten Investoren an. Doch auf die Hoffnung folgte ein jäher Absturz. Nach dem Abflauen eines ersten Wiedervereinigungs-Booms kam es erst zur Stagnation und dann zum Verfall der Immobilienpreise. Im Jahr 1994 ging der Immobilienunternehmer Jürgen Schneider auf spektakuläre Weise pleite und auch zahlreiche Prominente wie Thomas Gottschalk oder Günther Jauch mussten millionenschwere Verluste mit ihren Immobilienabenteuern in Leipzig hinnehmen.
In den ersten zehn Jahren nach der Wiedervereinigung verließen zudem rund 90.000 Menschen die Stadt und im Jahr 2000 lag die Arbeitslosenquote bei etwa 20 Prozent. Leipzig war wirtschaftlich am Boden. Die 2003 gescheiterte Olympiabewerbung für das Jahr 2012 stellte den Höhepunkt des Gefälles zwischen Anspruch und Wirklichkeit dar. Die zweitgrößte Stadt der DDR fühlte sich zwar immer noch auf Augenhöhe mit dem immer cooleren Berlin, war aber längst im Sinkflug Richtung Provinzniveau.
Doch um 2010 herum entstand dann das, was mittlerweile unter dem Begriff „Hypezig“ firmiert. Spätestens nachdem erst der britische Guardian und wenig später sogar die New York Times Leipzig als „Germany’s new cultural hot spot“ und „better than the capital“ bezeichnet hatten, kehrte die Stadt ins Scheinwerferlicht zurück. Mittlerweile ist in Leipzig scheinbar aus dem Nichts eine äußerst lebendige Szene aus leistungsstarken Software-Entwicklern und jungen Start-Up-UnternehmerInnen entstanden. Junge Firmen wie Spreadshirt, Nextbike oder die für Quizduell bekannte Appsfactory haben ihren Hauptsitz hier. Rund um die alten Backsteinfabriken sind in Sachsens Handelsmetropole Kieze mit Kunst, Kultur, Bars, Clubs und Restaurants entstanden. Auch deshalb kommen besonders viele junge Leute aus der für die Tech-Branche relevanten Altersgruppe von 25 bis 30 Jahren in die Stadt. Leipzig hat mit RB Leipzig zudem einen starken Vertreter in der Fußball-Bundesliga und muss sich auch in allen anderen Bereichen kaum hinter anderen Großstädten aus dem Westen verstecken. Laut einer in ganz Deutschland durchgeführten Umfrage im Auftrag der Stadt kann sich mittlerweile im Osten jeder fünfte und im Westen immer noch jeder zehnte Deutsche vorstellen, dauerhaft in Leipzig zu wohnen. Besonders bei den sogenannten Millennials erfreut sich Leipzig sowohl im Osten als auch in den alten Bundesländern wachsender Beliebtheit.
Auch deshalb ist Leipzig mittlerweile die am stärksten wachsende Großstadt in Deutschland. Noch zur Jahrtausendwende lebten 493.000 Menschen in der Stadt. Mittlerweile sind es fast 100.000 mehr. Damit hat die Messestadt Duisburg, Bremen, Hannover, Essen und Dortmund überholt und liegt im Ranking der größten deutschen Städte auf Platz acht. Vor zehn Jahren hatte die New York Times schon einmal eine dringende Reiseempfehlung für Leipzig ausgesprochen. Und diese 2020 noch einmal wiederholt. Es spricht also alles dafür, dass der Aufschwung in Sachsens größter Stadt noch nicht zu Ende ist.
Studio Babelsberg – eine Legende kehrt zurück
Wenn in Deutschland in diesem Jahr die dritte Staffel der Erfolgsserie „Babylon Berlin“ anläuft, dann kehren die 1920er Jahre nicht nur auf der Leinwand zurück, sondern es wird damit auch der endgültige Beweis geliefert, dass das älteste Großatelier-Studio der Welt und derzeit größte Filmstudio Europas zurück ist im Konzert der weltweit mächtigsten Filmproduktionsstätten. Die Studios in Babelsberg waren bereits 1911 gegründet worden. Gerade während der Zeit zwischen 1933 und 1945 entstanden hier zahllose Filme und machten die Potsdamer zum größten Konkurrenten Hollywoods. In der DDR waren die Studios dann die Heimat der ostdeutschen DEFA. Filme wie der für den Oscar nominierte „Jakob der Lügner“ oder „Drei Haselnüsse für Aschenbrödel“ entstanden hier. Nicht die schlechtesten Voraussetzungen, um auch nach der Wiedervereinigung wirtschaftlich erfolgreich durchzustarten.
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Doch nach dem Verkauf des Geländes und der darauf befindlichen Studios 1992 an den Konzern Compagnie Générale des Eaux aus Frankreich setzte zunächst der Niedergang ein. Denn die Franzosen scheiterten mit ihrem Versuch, die Babelsberger Filmstudios gewinnbringend zu vermarkten. 2004 gaben die Franzosen entnervt auf und veräußerte ihre Anteile an die neuen Filmbetriebe Berlin Brandenburg GmbH. Nur ein Jahr später wurde die Unternehmung unter neuem Namen als Studio Babelsberg AG an die Börse gebracht und begann danach einen wahren Siegeszug. Internationale Filmerfolge wie „V wie Vendetta“, „Operation Walküre“, „Das Bourne-Ultimatum“, „Cloud Atlas“ oder „Inglourious Basterds“ wurden nahezu komplett in Babelsberg gedreht. Mittlerweile arbeitet die Studio Babelsberg AG gewinnbringend und auch regelmäßig für Produktionsfirmen aus Hollywood – und zwar auch dann, wenn die deutsche Hauptstadt keine Rolle in dem Film spielt. Auf dem weitläufigen Gelände haben sich über 100 Unternehmen mit über 2.000 Mitarbeitern angesiedelt, die alle von der Filmproduktion leben. Mit den Babelsberger Studios ist Deutschland nach der Wende wieder in die erste Riege der filmproduzierenden Länder zurückgekehrt. Und das kann durchaus als eine Nachwende-Erfolgsgeschichte verbucht werden.
Dresden – das Silicon Valley Sachsens
Dass Dresden heute Europas größter Mikroelektronik-Standort ist und deshalb nur noch Silicon Saxony genannt wird, ist in nicht unerheblichem Maße der einstigen DDR zu verdanken. Denn neben der Raumfahrt wollte man vor allem auf dem Gebiet der Mikroelektronik mit dem Westen konkurrieren können. Ob der erste Megabite-Chip U61000 oder der erste Personalcomputer – für die DDR und den gesamten Ostblock waren diese Erzeugnisse wichtige Elemente der Überlegenheits-Propaganda. Und dafür verantwortlich: das Kombinat Robotron, dessen Hauptsitz Dresden war. Allerdings zeigte der Fall der Mauer, dass der Ostblock gerade auf diesen Gebieten viel zu langsam in der Entwicklung war und 1990 schon längst den Anschluss an das von Japanern und Amerikanern vorgegebene Weltniveau verloren hatte. Dennoch zeigte sich spätestens ab den späten 1990er Jahren auch, dass sich um den Robotron-Standort wichtige Keimzellen einer aufstrebenden IT-Industrie entwickelt hatten.
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Während in Kalifornien im Silicon Valley vor allem Algorithmen und Software entwickelt wurden, setzte man an der Elbe früh auf Hardware und dabei vor allem auf solche aus Silizium. Die dabei hergestellten Microchips stellen eine technische Schlüsselkomponente in der rasant fortschreitenden Digitalisierung dar und haben in Dresden einen wahren Boom ausgelöst. Mittlerweile zieht Dresden zahlreiche Hightech-Unternehmen an und hat sich als Silicon-Saxony längst einen Namen in der ganzen Welt gemacht. Über 70.000 Menschen arbeiten bei über 2.500 Unternehmen in der Mikroelektronik und der Kommunikations- und Informationsbranche. Der Umsatz dieses Industriezweiges beträgt im Raum Dresden jährlich über 15 Milliarden Euro. Allein Infenion beschäftigt am Standort Dresden mittlerweile über 2.000 Mitarbeiter. In diesem Jahr wird eine neue Halbleiterfabrik von Bosch ihren Betrieb aufnehmen. Das Werk ist so groß wie 14 Fußballfelder und stellt mit einer Milliarde Euro die größte Einzelinvestition in der 130-jährigen Geschichte dieses deutschen Traditionsunternehmens dar. Dresden konnte sich bezüglich dieser Niederlassung gegen die Konkurrenten New York und Singapur durchsetzen und hat auch damit bewiesen, dass Silicon Saxony zu einer der größten Erfolgsgeschichten der deutschen Wiedervereinigung gehört.
Die Biosphären-Reservate und Nationalparks des Ostens
Mit der deutschen Einheit jährt sich zu jedem Jubiläum auch ein berühmter Beschluss des letzten Ministerrats der DDR. Als Highlight vor der Wiedervereinigung am 3. Oktober 1990 trat Mitte September des gleichen Jahres die Nationalparkverordnung in Kraft. Es sind die ehemaligen Armeeübungsplätze, Grenzterritorien und Jagdgebiete von Honecker & Co, auf denen sich großflächig naturnahe und ursprüngliche Landschaften erhalten haben. Unter der Führung des stellvertretenden Umweltministers in der Übergangsregierung Hans Modrows, Prof. Dr. Michael Succow, schafft es eine überschaubare Gruppe engagierter Umweltschützer kurz vor der vollzogenen Einheit 14 Großgebiete dauerhaft unter Naturschutz zu stellen. Damit standen fast fünf Prozent der gesamten Fläche der ehemaligen DDR nun unter Naturschutz, während es auf dem Gebiet der ehemaligen BRD zu diesem Zeitpunkt nur etwa 0,6 Prozent waren. Heute erfreuen sich die fünf Nationalparks Müritz, Hochharz, Vorpommersche Boddenlandschaft, Sächsische Schweiz und Jasmund, die sechs Biospärenreservate Spreewald, Rhön, Schorfheide-Chorin, Südost-Rügen und Vessertal sowie die drei Naturparks Märkische Schweiz, Schaalsee und Drömling großer Beliebtheit und sind zu oft besuchten Zielen von zahlreichen Touristen geworden.
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In den Kernzonen der Reservate und Nationalparks darf bis heute kein Baum gefällt und kein gefallener Baum entfernt, muss die Natur komplett in ihrer Ursprünglichkeit belassen werden. Gerade durch die Naturparks in den weniger dicht besiedelten Ländern und Regionen wie Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern hatten diese wieder eine Chance, touristisch davon zu profitieren. Durch die Ausweitung der geschützten Flächen haben die Gebiete im Osten perfekte Voraussetzungen, um effektive Maßnahmen für den Klimaschutz umzusetzen. Auch die Ansiedlung des Wolfes in der Lausitz ist ein direktes Ergebnis der Nationalparkverordnung aus dem Jahr 1990. Der letzte Umweltminister der DDR, Karl-Hermann Steinberg, zeigte sich kürzlich sehr stolz über das Erreichte: „Heute, fast 30 Jahre später sind alle glücklich darüber, dass wir dieses Programm so kurz vor der Wiedervereinigung noch durchgeboxt haben. Das sind jetzt die Perlen des Ostens. Genau dort ist die Touristik in Gang gekommen, das sind die wirtschaftlich starken Gebiete, die damals ökonomisch als nicht entwicklungsfähig galten. Und das ist eindeutig eine der großen Errungenschaften der Wiedervereinigung.“
Jenoptik – ein Musterfall ohne Masterplan
In der DDR war Jena das technologische Zentrum der Industrie. Mehr als 60.000 Mitarbeiter bauten damals im Kombinat VEB Carl Zeiss Jena die Errungenschaften der volkseigenen Mikroelektronik auf „Weltniveau“: Mikroskope, Steuerchips für sowjetische Atomraketen, Teile für die Weltraumstation „Mir“. Mit der Wende brachen die Märkte weg. Die Treuhand übernahm ein marodes Gebilde mit 30.000 Arbeitsplätzen – von denen sich keiner rechnete. Jeden Monat überwies sie 50 Millionen D-Mark, spätestens im Frühjahr 1991 drohte die Pleite. Nachdem der CDU-Politiker Lothar Späth als Vorstandschef übernommen hatte, wurde das Unternehmen verschlankt und das einstige Kombinat geteilt. 17.500 Mitarbeiter wurden entlassen. Es war der größte Kahlschlag im Osten, von Dezember 1991 bis Dezember 1992 schnellte die Arbeitslosenquote in Jena von 7,2 Prozent auf 14,6 Prozent nach oben.
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Doch der Niedergang war gleichzeitig auch der Beginn einer für den Osten beispiellosen Erfolgsgeschichte. Mittlerweile sind wieder über 10.000 Mitarbeiter im Bereich Hochtechnologie beim Unternehmen Jenoptik AG beschäftigt. Um die Traditionsfirmen Zeiss, Schott und Jenoptik herum haben sich zahlreiche kleine und mittlere Unternehmen angesiedelt, die in den Bereichen Glasindustrie, Biotechnologie, Softwarentwicklung und Medizintechnik Global Player und internationale Marktführer sind. Keine Stadt des Ostens hat eine solche Bandbreite an modernsten Technologiebranchen zu bieten wie Jena. Darüber hinaus ist die thüringische Stadt zu einem Zentrum der deutschen Start Up-Szene geworden. Über 35 Prozent der Beschäftigten der Unternehmen in Jena haben einen Universitätsabschluss. Damit liegt sie in dieser Kategorie bundesweit auf dem zweiten Platz. Jena ist darüber hinaus auch zu einem beliebten Studienort geworden. In der Stadt gibt es fast 25.000 Studenten. Auch deshalb ist die Hälfte der Einwohner heute unter 40 Jahre alt.
Gewinner der Deutschen Einheit
Glücklicherweise sind diese fünf Beispiele nicht die einzigen Erfolgsgeschichten der deutschen Einheit. Die Wiedervereinigung ebnete auch den Weg für neue Unternehmungen. So wurde beispielsweise Angang November 1993 in der turbulenten Nachwendezeit im Raum Chemnitz das Unternehmen Bruno Banani gegründet. Mit einer klugen Markentingstrategie erreichte die Marke in wenigen Jahren einen hohen Bekanntheitsgrad. Mittlerweile produziert Bruno Banani Herrenunterwäsche, Damenunterwäsche, Bademode und Oberbekleidung und Parfüm.
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freier Journalist für die Berliner Zeitung, Mitteldeutsche Zeitung und das CarlMarie Magazin