Einerseits. Aber einen Satz korrigieren, der so sehr zum geflügelten Wort geworden ist für Modestil und Wille, ist nicht einfach. Wer trennt sich schon gern von einem Aphorismus solchen Kalibers. Lagerfeld hatte in einer TV-Sendung gesagt: „Wer Trainingshosen trägt, hat die Kontrolle über sein Leben verloren.“
Das war 2012. Mittlerweile hat sein spitzzüngiges Trendurteil sich ins Leben verkehrt. Und das weltweit. Frauen und Männer tragen Turnschuhe, Leggins, Jogginghosen, Laufshirts oder Hoodies nicht mehr nur daheim, in Sport- oder Yoga-Studios. Sondern – Gott bewahre! – in so ziemlich allen sozialen Lebenslagen. Also auch auf der Straße. In Cafés. Restaurants. Und wenn möglich auf der Arbeit. Alles, was bequem ist, ist gängig. Früh zum Pilates und anschließend in denselben Sachen zum Frühstück ins Café? Kein Thema. In Laufschuhen auf Arbeit? Nicht mehr. Und in Yoga-Pants auf die Party? Unbedingt, machen nämlich alle so. Nur Odor und Haltung müssen stimmen, dann ist der modisch umfunktionierte Athleten-Look in jeder Lebenslage stimmig. Ach ja, und wenn man auch noch weiß, wie der Trend heißt, umso besser für den Small Talk über seine neuesten Spielarten. Athleisure heißt er.
Was mit dem zungenbrecherischen Wort gemeint ist, ob Athleisure auch die graue Schlabberhose aus Flanell adelt und wie die Dessous-Branche auf den Trend reagiert, sagen wir euch im Folgenden. Und wir verraten auch, ob Karl Lagerfeld sich dem Trend widersetzt. Das machen wir übrigens gleich vorweg. Hat er nämlich nicht. Schon 2014 passte der Modezar sein Urteil an. Mit Stift und Schere. Schweigend allerdings. Seine Winterkollektion für Chanel bestand aus Tweed-Sneakern, Leggins und Jogginghosen. Sommer 2015 legte er mit einer Exklusiv-Kollektion für Zalando nach. Ihr Name: „Sport City“.
Athleisure – Was ist das?
Eine Schönheit ist dieses Wort nicht. Nicht für eine deutsche Zunge. Aber es ist funktional wie das, was es bezeichnet. Athleisure ist ein Kofferwort, auch Portmanteau-Wort genant. Es setzt sich zusammen aus Athletic (deutsch: sportlich) sowie Leisure (Freizeit) und bezeichnet damit die beiden wichtigsten Einflüsse auf den Kleiderstil.
Vom Modehimmel gefallen ist der Trend freilich nicht. Zwanglos geht es schon eine Weile in unserem Alltag zu. Gerade in den USA ist casual wear, sprich ein lässiger Stil, seit vielen Jahren gängig. Und auch hierzulande kennt man den Look schon eine geraume Weile. Spätestens als der frühere Politiker Joschka Fischer 1985 in weißen Turnschuhen als erster grüner Minister vereidigt wurde, ist eine bequeme Interpretation alter Kleiderordnungen salonfähig. Neu aber ist die Gesamtkomposition der Athleisuristas, die nicht nur vom Yoga-Kurs direkt ins Büro eilen, ohne an ihrem Outfit außer dem Nötigsten etwas zu ändern. Es ist auch die Lebenseinstellung, die er und sie damit ausdrücken. Seht her, wir treiben Sport, wir leben gesund, und wir interessieren uns für Mode! Schließlich ist das das neue Leben. Praktisch und vielseitig sollen die neuen Textilien sein. So wie das Berufsleben es von den Vielbeschäftigten fordert, die mit Ach und Krach ihre Workouts in den Alltag integrieren. Warum sich dann also permanent umziehen?! Zudem gebe es „ein wachsendes Bedürfnis nach allem, was mit Gesundheit zu tun hat“, sagte vor zwei Jahren der Einkäufer von Net-a-Sporter, Ben Matthews, der vor der Gründung des Online-Händlers für Athleisure-Mode sich gründlich die Zielgruppe besah: „Frauen weltweit werden immer aktiver.“ Und dafür braucht es nun mal den entsprechenden Look.
Wie funktioniert der Look?
Turnschuhe gehen schon eine Weile in allen erdenklichen Lebenslagen. Neu sind die Jogginghosen, Leggins oder Tank-Tops. Erlaubt ist, was funktional ist, bequem und sportlich. Der Standard-Look des letzten Jahres bei jüngeren Frauen waren Leggins, Stiefel, weites T-Shirt oder Tank-Top, Schal, Lederjacke, Sonnenbrille. Bei Männern Sneaker, Jogginghosen mit engen Beinbündchen, T-Shirt und Windjacke. Abgewetzt aber sollten die Kleidungsstücke auf keinen Fall aussehen. Graue Flanell-Hosen aus den Beständen der Eltern sind deshalb ein No-go. Athleisure meint zwar lässig und sportlich, aber nicht nachlässig und faul. Darauf gilt es zu achten.
Schwer allerdings ist das nicht, denn die Regale der großen Modelabels und –ketten bersten nur so vor Athleisure-Angeboten. Die Sängerin Beyoncé etwa hat ihr Design-Debüt dem neuen Trend gewidmet. Topshop hat die Kollektion „Ivy Park“ verkauft, sie war im Handumdrehen nicht mehr erhältlich.
H & M holte sich für seine Sportswear-Kollektion 2014 den Stardesigner Alexander Wang ins Boot. Der verriet der New York Times: „Ich lebe in Trainingsklamotten. Man sieht es auf der Straße, es ist eine Art Uniform geworden.“ Und natürlich sind auch Adidas und Nike ganz vorn mit dabei.
Die beiden Sportartikel-Hersteller haben vor Jahren schon erkannt, dass ihr Athleten-Stil nicht nur von Sportlern getragen wird, sondern auch von Menschen, die nur gern so aussehen möchten. Ein Großteil ihrer Streetfashion ist deshalb schon lange mehr leisure als athletic. Adidas etwa arbeitete bei seinen Athleisure-Kollektionen mit Designern wie Stella McCartney, Raf Simons, Rock Owens, Jeremy Scott und Mary Katrantzou zusammen.
Auch Nike lässt sich nicht lumpen. Der US-Hersteller allerdings geht wie oft einen eher unkonventionellen Weg und arbeitete zuletzt eher mit Newcomern zusammen. So mit Pedro Lourenco, der Berlinerin Johanna F. Schneider und jüngst mit der in Insiderkreisen hochverehrten Japanerin Chitose Abe vom Label Sacai zusammen. Abe etwa setzte mit ihren jüngsten Entwürfen dem Athleisure-Trend einen vorläufigen Höhepunkt. Sie entwarf u. a. Sweatshirts mit Netz-Volants und Plisseefalten am Rücken. Und funktionierte die „Windrunner“-Jacke von Nike zu einem Faltenrock um.
Übrigens, wie alt der Wunsch nach sportlicher Alltagskleidung bereits ist, zeigt das Beispiel von Lululemon. Die Marke wurde bereits 1998 vom Kanadier Chip Wilson gegründet. Der Designer entwarf Yoga-Mode, die so schick sein sollte, dass Frauen damit auch auf Arbeit, ins Café oder zum Einkaufen gehen konnten. Lululemon setzt heute an die zwei Milliarden Dollar pro Jahr um und verkauft in annähernd 350 Shops weltweit.
Leisurée – Wie Athleisure auf die Dessous-Branche abfärbt
Es gibt sie noch, die BHs aus Seide oder Satin, mit Spitzengalons und eleganten Stickereien. Dessous zu tragen ist schließlich immer noch in erster Linie eine Antwort auf Fragen von Sinnlichkeit und Verführung. Aber auch in der Unterwäsche-Branche ist der Einfluss des Athleisure-Trends spürbar. Die Verkaufszahlen der Klassiker sind zuletzt merklich zurückgegangen. Während die der sportlichen Varianten zugenommen haben. Der Retail-Analyst EDITED etwa hat jüngst 80 Dessous-Marken in den USA und Europa nach seinen Absätzen im BH-Bereich gefragt. Das Ergebnis: Der Verkauf von Push-Up-BHs ist um 50 Prozent eingebrochen. Und der von Bralettes und Triangel-BHs um 120 Prozent gestiegen. Die EDITED-Analystin Katie Smith erklärte nach der Befragung: „Dank des Athleisure-Trends, der mittlerweile zum Alltagsoutfit geworden ist, müssen die Einzelhändler sich auf Bralettes und Sport-BHs als Kerngeschäft einstellen.“
Vor allem Bralettes sind Hotsellers. Die Büstenhalter kommen ohne Bügel, Pads oder gepolsterten Cups aus. Sie sind aus hauchzartem Stoff gefertigt, Stretch oder Micromesh, haben feine Träger, oft mehr als zwei, die den BH nicht nur halten, sondern ihn auch schmücken und sind meist als Triangel geschnitten. Sie sind bequem. Und nicht weniger sexy. Viele Bralettes sind aus feinster Spitze, haben offene Nähte und augenfällige Applikationen, die man unter einem weiten Shirt oder einen Oversize-Pulli tragen kann, ohne sie verbergen zu müssen.
Wer deshalb nicht mitmacht beim Athleisure-Trend, den bestraft der Kunde. „Etablierte Lingeriemarken sehen sich einer scharfen Konkurrenz von Newcomern wie Negative, Adore Me oder Lively gegenübergestellt“, so Analystin Smith. Lively etwa hat sich komplett auf die Wünsche moderner, sportlich aktiver Frauen eingestellt, die gern schicke Dessous tragen. Nicht aber, ohne damit ihren Lebensstil zu konterkarieren. Das Label beschreibt seine Motive so: „Wir lassen uns inspirieren von dem, was Frauen heute sexy macht: Klugheit, Gesundheit, Aufgeschlossenheit und Aktivität.“ Die US-amerikanische Marke hat für seine Kollektion deshalb ebenfalls ein Kofferwort kreiert, um Athleisure in die Dessous-Branche zu übersetzen. Lively hat Lingerie und Leisure zu Leisurée zusammengefügt.
Ist das Ende des klassischen Dessous gekommen?
Mitnichten. Auch klassische Anzüge und oldfashioned Business Kleidung sind nicht aus der Welt. Ebenso wenig elegante Abendkleider. Oder Extravaganzen aller Art. Athleisure ist nur eine Spielart der Mode. Aber eine, die den Zeitgeist spiegelt. Die Welt von Designern wie Karl Lagerfeld jedenfalls wird gerade abgelöst von einer Wirklichkeit, in der die Leistungsanforderungen des Alltags immer weniger Raum lassen für modische Verspieltheiten. Gesundheit, Agilität, Belastbarkeit und Funktionalität sind die Eckpfeiler eines modernen (Berufs-)Lebens. Dem trägt der Workout-Look Rechnung. Auch in der Unterwäsche-Branche. Aber er ist kein Muss. Keine Mode ist das. Und wenn Karl Lagerfeld noch ein paar Jahre nichts sagt zur neuen Fashion, wer weiß, vielleicht hat er irgendwann wieder recht. Wie schnell es nämlich doch zugehen kann. Vor seinem Comeback im WM-Kampf gegen den Briten Anthony Joshua hatte der Schwergewichtsboxer Wladimir Klitschko in einem Werbespot für Athleisure-Ware geworben. Lagerfeld sprach er darin direkt an: „O Karl, man kann sich auch mal irren.“ Anschließend ging er in der elften Runde K.o.
freier Journalist für die Berliner Zeitung, Mitteldeutsche Zeitung und das CarlMarie Magazin
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