Sensationsfund in Osttirol! So überschrieben am 19. Juli 2012 gleich mehrere deutschsprachige Zeitungen ihre Berichte über eine Meldung aus dem Archäologischen Institut der Universität Innsbruck, die neben den Beschreibungen einiger mittelalterlicher Bekleidungsstücke aus dem Hohlraum einer Etagendecke in Schloss Lengberg auch eine Nachricht für alle Textilforscher, Historiker und Zeitdeuter parat hatte. Schreibt eure Geschichte neu! – lautete die Botschaft. Der BH ist älter, als ihr alle annehmt. Viel älter!
Teufel noch eins! Bislang hatte man angenommen, dass die ersten Brustschalenkonstruktionen aus den Schneiderstuben des ausgehenden 19. Jahrhunderts stammten. Doch dann das: Ein BH aus dem 15. Jahrhundert!
Und was für einer! Die Taschentuchkonstruktionen, mit denen sich etwa die Dresdnerin Christine Hardt, die Pariserin Herminie Cadolle oder die New Yorkerin Mary Phelps Jacob gegen das Korsett auflehnten, nehmen sich gegen den BH aus dem Lengberger Decken-Hohlraum aus wie Knetfiguren aus den Händen von Kleinkindern.
So sinnlich war das Mittelalter
Ein kleines Meisterwerk haben die Forscher da bei Renovierungsarbeiten schon 2008 entdeckt. Vor allem der BH Modell Nummer vier ist eine textile Sensation und erhellt den Verdacht, dass die Zeiten vor der Moderne gar nicht so unmodern waren, wie der Epochenbegriff nahe legt. Das brustumfassende Textil gleicht nämlich bis in die Details hinein einem gängigen Longline-BH, also einer Melange aus BH und Mieder. Und hat so gar nichts mit dem Tuch-und-Hosenträgergebilde gemeinsam, mit dem etwa das Fräulein Hardt den Abschied von der erdrückenden Korsagerie der vorherigen drei Jahrhunderte einläutete. In ihrem Fundbericht beschreiben die Innsbrucker Bekleidungsforscher ihr schönstes Stück: „Die Körbchen sind aus je zwei Stück Leinen genäht. Das restliche Gewebe aus etwas gröberen Leinen reicht bis knapp unterhalb des Brustkorbs mit einer Reihe von sechs sog. Nestellöchern auf der linken Seite des Körpers zum Verschluss mit einem Band oder einer Schnur. Nadelspitze verziert den Rand der Körbchen am Dekolleté.“
So sinnlich also war das Mittelalter. Bis zum Fund in den Osttiroler Bergen hatten die Forscher angenommen, dass die Damen des Mittelalter unten drunter, wenn überhaupt, dann Stoffbänder verwendeten, um die Brust zu stützen. Hier und da stand auch was von „Hemden mit Säcken“ geschrieben. Oder von „Taschen für die Brüste“. In einem satirischen Gedicht fand sich das Wort „Tuttenseck“. Die Forschung ist bislang schmunzelnd darüber hinweggegangen. Mittelalter eben.
Schwerer Stand für die historischen Schönheiten
Aber BHs? Gab’s damals nicht – so lautete bis dato das Urteil der Historiker, für das seit Lengberg kein Platz mehr in der BH-Geschichtsschreibung ist. Modell Nummer vier ist schließlich nicht der einzige Beweis dafür, dass man sich schon vor über 500 Jahren mit Verstand und Sinnlichkeit des Problems der rechten Bekleidung für die Brust widmete. Auf dem Schloss barg der Deckenraum zwischen erster und zweiter Etage noch drei weitere BH-ähnliche Leinenstücke, nebst einer Unterhose, 16 weiteren Wäschestücken für oben drüber – und gut 2500 Geweberesten, von denen aber keiner mehr sagen kann, wofür sie gebraucht wurden.
Eine Radiokarbondatierung bei den Kollegen der Eidgenössischen Technischen Hochschule in Zürich bewies schließlich die Annahme, dass das Leinenknäuel als Dichtungsmasse bei der letzten Renovierung des spätmittelalterlichen Gemäuers diente. Der Zeitraum, aus dem die Fundstücke stammen: irgendwann zwischen 1390 und 1485. Doch die historischen Schönheiten haben es nicht leicht. Ein bisschen verloren stehen sie neben einer Riege der angeblichen Erstlings-Büstenhalter, mit denen sich bis dato so vortrefflich die Geschichte der emanzipierten Frau erzählen ließ. 300 Jahre Korsettfolter, Zwang, Ohnmacht, Organschäden, Fehlgeburt – und schnippschnapp raus aus der alten Geschlechterrolle und hinein in eine Zukunft, die in Brusthöhe der BH markierte.
So heißt es. Und auch in Deutschland kann man nur ganz schwer davon lassen, das Geburtsdatum des BHs in die Zeit zwischen 1899 und 1912 zu legen. 1899 meldete Fräulein Hardt in Dresden ihr Patent an. 1912 ging bei Lindauer & Co, heute noch bekannt als PrimaDonna, in Cannstatt der erste BH in Serienproduktion.
Christine Hardt schreitet zur Tat
In Süddeutschland zum Beispiel hält sich noch immer die Vorstellung, der Büstenhalter sei in Cannstatt erfunden wurden. Und auch in Dresden müht man sich redlich, die Urheberschaft am weltersten BH an der Elbe zu halten.
Es ist ja auch nicht ganz unwahr. Geschichte ist eben vergesslich. Und Errungenschaften gehen flöten. Nicht anders ist es den BHs des Mittealters ergangen, als im 16. Jahrhundert die ersten Korsagen auf die Märkte kamen und ganz neue Figurformen ermöglichten. Die Sanduhr-Frau kam in Mode und hielt sich 300 Jahre lang wacker aufrecht. Bis sie der vielen Ohnmachtsanfälle, der Organschäden und Fehlgeburten überdrüssig wurde. Und die Dresdnerin Hardt zur Tat schritt.
Wer genau Christine Hardt gewesen ist, kann kein Papier mehr bezeugen. Man weiß lediglich, die Masseuse und Lehrerin für Heilgymnastik stand der Lebensreform-Bewegung nahe. Dieser war der Körper heilig und die Befreiung von allen textilen Übeln eine Mission. So weit bekannt stand Fräulein Hardt dem Dresdner Arzt Heinrich Lahmann nahe, der in seiner Schrift „Kleiderordnung“ forderte, dass Wäschestücke nur auf den Schultern ruhen dürften. Hinfort also mit den Korsetts und Gürteln. Hosenträger sollten das Problem beheben.
Bis zum Patent-BH von Fräulein Hardt war es von da aus kein weiter Weg mehr. Sie nahm zwei Taschentücher, die sie zusammenknotete, befestigte diese an zwei Hosenträgern – und fertig war das Revolte-Artefakt.
In der Patentschrift vom 5. September 1899 beschrieb sie Aufbau und Funktionsweise. „Das Frauenleibchen als Brustträger besteht aus Rücken- und Seitenteilen, auf welche Schlaufen aufgenäht sind, durch welche Männerhosenträger jeder Art eingeführt und durch Knöpfe befestigt werden können.“ Wie der BH zu handhaben ist, wurde ebenfalls von der Erfinderin en detail festgehalten. Ein wenig pingelig in der Akkuratesse sei das gewesen, befand der damals zuständige Beamte. Er hielt seinen Seufzer in einer Notiz fest: „Also mir isset völlig schleierhaft, wie man so ne hübsche Erfindung so kompliziert machen kann.“
Herminie Cadolles Korsagen sind Legende
Christine Hardt also, Erfinderin des ersten BHs der Moderne? No, rufen die Franzosen. Sie halten ihre Landsmännin Herminie Cadolle für die Urheberin. Die Korsett-Schneiderin war eine streitbare Zeitgenossin. Auf den Barrikaden der Pariser Commune forderte sie erstmals mehr Rechte für Frauen ein. Die Monarchie war nicht gerade amusé. Madame Cadolle wurde inhaftiert und floh anschließend nach Buenos Aires. In der argentinischen Hauptstadt schritt sie mit Nadel, Schere und Faden zur Tat. Sie dachte an Libération und ersann das erste luftige Mieder mit Cups für die Brüste. Ein Akt der Befreiung, für den sie nach ihrer Rückkehr in die Heimat groß gefeiert wurde. Sie stellte auf der Expo 1899 in Paris aus, ließ sich ihre Erfindung im selben Jahr patentieren und belieferte in den kommenden Jahren alles, was Rang und Namen hatte mit ihren Dessous. Ist heute übrigens immer noch so: Cadolle ist das einzige Dessous-Maßatelier in Paris. Die Korsagen sind Legende.
Immerhin fallen Fräulein Hardts und Madame Cadolles Patentjahre zusammen. Darüber lässt sich also streiten. Miss Mary Phelps Jacob müssten man deshalb eigentlich gar nicht erwähnen. Würden die Amerikaner nicht behaupten, dass die New Yorker Verlegerin, Schriftstellerin und Feministin den Ur-BH erfunden hätte. BH ja, aber 1915 ein Patent anmelden? Das verdrängt sie eigentlich auf die hinteren Geschichtsbücherseiten. Trotzdem hält sich die Phelps standhaft vorn.
Zu verdanken hat sie das ihrem damaligen Ruhm. Und ihrer Geschäftstüchtigkeit. Der Legende nach störte Miss Jacob eines Abends, dass die Fischbein-Stege ihres Korsetts aus dem Abendkleid lugten. Zusammen mit ihrem Dienstmädchen zerschnitt sie zwei Seidentücher, knotete sie zusammen, befestigte zwei rosa Träger dran – und fertig war der angeblich welterste Brusthalter, den sie 1914 als Patent anmeldete. Wenig später verkaufte sie die Rechte an die Warner Brothers Corset Company. Von dort aus zog der BH in die Welt hinaus.
In den USA also denken sie: die Jacob wars. Die Franzosen meinen: Madame Cadolle. Die Deutschen sind gespalten, die einen halten Lindauer für den Erfinder, andere die Hardt in Dresden. Und wie ist das in Österreich? Dort lachen sie sich vermutlich schlapp. Am Lengberger BH aus dem 15. Jahrhundert kommt nämlich eigentlich keiner mehr vorbei. Es braucht dafür nur Minimum ein funktionierendes Auge.
freier Journalist für die Berliner Zeitung, Mitteldeutsche Zeitung und das CarlMarie Magazin