Blau ist die wohl demokratischste Farbe, die wir kennen. Es bedeutetet buchstäblich alles für alle Menschen – mit einer Vielzahl von Assoziationen, die von dem genauen Ton abhängen und daher universell ansprechend sind. Gerade die mittleren Blautöne strahlen eine so ausgleichende Solidität aus, dass sie von vielen internationalen Firmen für ihre Logos und von vielen Institutionen und Behörden als Symbol für Loyalität und Vertrauen gesehen werden. Pantones Farbe des Jahres 2020, „Classic Blue“, mit der Kennzeichnung 19-4052, spielt darauf an und ist ein tiefblauer Indigofarbton, der gleichzeitig beruhigend und verlässlich ist, und die Verbindung zu einem Himmel in der Abenddämmerung, zu einem tadellos geschnittenen Anzug, zu ruhigem Wasser oder einer Schale mit perfekt reifen Blaubeeren herstellen soll.
„Classic Blue“ zu realitätsfern, sagen Kritiker
Schaut man sich allerdings in der Welt um, dann haben wir es auf der einen Seite nicht nur mit den unübersehbaren Folgen eines Klimawandels, sondern auch mit einer Vielzahl von kriegerischen Auseinandersetzungen und polarisierenden Aufständen zu tun. Nach Meinung von Michelle Ogundehin, Autorin bei „Elle“ und TV-Moderatorin mit einem besonderen Faible für Farben, sollte, wer die Welt verändern wolle, erstmal sein Bett machen. „Und das bedeutet für mich, dass es besser gewesen wäre, wenn Pantone sich für einen Braun- oder Grünton entschieden hätte. Beim Neupflanzen der Welt sollten wir lieber mit beiden Beinen fest auf dem Boden der Natur stehen als mit dem Kopf in irgendeinem blauen, visionären Himmel zu stecken.“
Junge Menschen bringen Blau nicht mehr mit Traurigkeit in Verbindung
Solide und repräsentativ, tiefer denken, die Perspektiven erweitern sowie den Fluss für allgemeine Kommunikation öffnen, eine verankernde Erdung, so weit wie der Himmel und so friedlich wie ein See – das hatte den Entscheidern bei Pantone bei der Wahl von „Classic Blue“ nach eigener Aussage vorgeschwebt. Das Pantone-Blau bekam seinen eigenen Song, der – nostalgisch – uns an einen Ort der Behaglichkeit und Vertrautheit bringen sollte. „Classic Blue“ wurde als Stoff gezeigt, mit „einer weichen, samtigen Textur zum Beeindrucken“. Die Kritiker erwiderten, das sei widersprüchlich. Denn Blau ist im Nahen Osten und in einigen Kulturen Lateinamerikas nicht nur die Farbe der Trauer, sondern wird im Westen im Sinne von „Blue“ und „den Blues haben“ auch mit Depressionen und Alkoholmissbrauch in Verbindung gebracht. Eine Assoziation, die Leatrice Eiseman, Executive Director am Pantone Color Institute in der New York Times allerdings zurückwies. Junge Menschen würden die Farbe Blau kaum noch mit Traurigkeit in Verbindung bringen. Das sei vielmehr eine Assoziation der älteren Generation.
20 Jahre nach „Cerulean“ wieder ein Blauton
Pantones Wahl wird vielleicht erst dann richtig nachvollziehbar, wenn man sich die Geschichte des „Color of the Year“-Franchise betrachtet, das vor 20 Jahren begann. In diesem Jahr wurde das azurblaue „Cerulean“ gewählt, ein heiterer Farbton, der die Aufregung eines neuen Jahrtausends darstellte. Ceruleans Einfluss in diesem Jahr durchdrang den kulturellen Zeitgeist und reichte von Wohnkultur-Trends bis zu High Fashion. Als Referenz könnte man den Monolog von Meryl Streeps Charakter Miranda Priestlys im Film „Der Teufel trägt Prada“ sehen, in dem sie aufschlüsselt, wie diese Farbe tatsächlich eine globale Industrie dominierte. Laut Laurie Pressman, Vizepräsidentin des Pantone Color Institutes, wurde auch wegen des 20-jährigen Jubiläums von „Cerulean“ diesmal wieder ein Ton aus der blauen Farbfamilie gewählt. „Wir befinden uns jetzt wieder in dieser Aufregung wie vor der Jahrtausendwende. Doch weil die Gefahren und Ängste diesmal viel realer sind, wollten wir ein beruhigendes Blau, voller Ruhe und Zuversicht. Ein Blau, welches solide Verbindungen aufbaut.“
„Der Abendhimmel ist für uns alle zugänglich“
Laut Pressman war Pantone der Ansicht, dass das tiefe Blau dem des Himmels in der Abenddämmerung entspricht, was ein zentraler Grund dafür ist, warum diese Farbe bei so vielen Menschen so große Resonanz findet. „Es ist kein Mitternachtsblau, Classic Blue ist nachdenklich, aber es ist nicht so tief und mysteriös“, so Pressman. „Es spricht für unsere Vorfreude, in der Abenddämmerung ist der Tag noch nicht vorbei. Wir denken eher: Was liegt vor uns? Es ist beruhigend, aber zum Nachdenken anregend. Es unterstreicht unseren Wunsch nach dieser verlässlichen, verankernden Grundlage, auf der wir aufbauen können, wenn wir die Schwelle zu einer neuen Ära überschreiten. Wir leben in einer Zeit, die Vertrauen und Zuversicht erfordert. Wir alle sehen diesen blauen Himmel und können uns darauf beziehen, er ist eben für uns alle zugänglich.“
Zurück zu den Klassikern, weil alles ins Chaos zu fallen scheint
Tatsächlich scheint „Classic Blue“ trotz aller Kritiken für diesen Moment besonders passend zu sein. Der Farbton ist sowohl geschlechts- als auch saisonunabhängig. Darüber hinaus kann der Indigofarbton auf natürliche Weise durch Pflanzen und Farbstoffe erzielt werden. Dies macht ihn zu einer Farbe, die gut mit der Nachhaltigkeitsbewegung harmoniert. Somit ist auch die Verbindung zum Themen-Schwerpunkt des letzten Jahres hergestellt, als „Living Coral“ zur Farbe des Jahres 2019 gewählt worden war. Während einige den 2020iger Farbton mit Nostalgie oder Konvention in Verbindung bringen, sagt Pressman, sei „Classic Blue“ zwar ein Sinnbild für Tradition, aber dabei sehr zeitgemäß. „Wir kehren zu den Klassikern zurück, weil in der Welt alles ins Chaos zu fallen scheint.“
Blau steht auch für das Abstrakte
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Eine andere Deutungsweise hat Greg Rowland, ein weltbekannter Farb-Semiotiker: „Blau ist etwas, das extrem häufig ist, wenn wir von der Erde aufblicken, aber extrem selten, wenn wir aufs Konkrete schauen. Es gibt zum Beispiel nur wenig blaue Pflanzen, Pilze und Früchte. Das ist einer der Gründe, warum blaue Augen in der westlichen Kultur so geschätzt werden.“ Und so ist es auch nicht verwunderlich, dass Blau als Farbe der Hoffnung, des Optimismus und der ruhigen Bestimmtheit angesehen wird. Blau ist das Gegenteil von Rot. Rot bedeutet Ärger. Es symbolisiert Gefahr und treibt uns zu irgendeiner Art von Handlung an. Blau dagegen ist träumerischer, introspektiver und wird oft verwendet, um das mentale Reich zu kennzeichnen. Rowland erklärt: „Wenn wir Rot sehen, wissen wir, dass jemand in Schwierigkeiten steckt oder böse mit uns ist. Wenn wir gelb sehen, wissen wir, dass wir wahrscheinlich essen können, was immer es ist. Wenn wir grün sehen, besteht die Möglichkeit, dass es sich um eine Pflanze handelt. Aber bei Blau denken wir an nichts Konkretes, es fehlt ein physisches oder natürliches Zuhause, was bedeutet, dass es geeignet ist, das Abstrakte zu beschreiben.“
Classic Blue in der Mode
Auch wenn die Farbe bei Kritikern einen schweren Stand hat, in der Mode ist sie längst angekommen und viele labels sehen sie bereits als Statement. Auch bei uns im Shop von CARLMARIE findet Ihr schicke Teile im Trendton.
freier Journalist für die Berliner Zeitung, Mitteldeutsche Zeitung und das CarlMarie Magazin