Jeder kennt es. Jeder hat es nicht nur ein Mal in seinem Leben erlebt. Und erinnert sich mit großer Wahrscheinlichkeit ungern daran. Bekommt Herzklopfen. Das Gesicht wird rot, der Atem kürzer, die Handflächen feucht. Versinken möchte man, vorzugsweise im Boden, wenn das denn ginge.
Weil es kaum unangenehmer geht. Die Rede ist von einem Gefühl, das mächtiger ist als jedes andere. Und über das kaum jemand spricht, kaum im kleinen Kreis. Und noch viel weniger in der Öffentlichkeit: die Scham und alle mit ihr einhergehenden Gefühle wie Begleiterscheinungen.
Erlebnisse, bei denen wir uns „zu Boden“ geschämt haben, stammen vorzugsweise aus unserer Kindheit und Jugend. Im Alter werden wir resistenter. Die Momente, in denen wir uns „zu Tode“ schämen, nehmen ab. Aber sich zu schämen, ist damit nicht aus der Welt. Wir haben einerseits nur gelernt, besser damit umzugehen. Und wir haben ebenso gelernt, Situationen zu vermeiden, in den wir uns schämen könnten. Wer kennt das nicht: Wurde früher als Mädchen im Freibad für seine Figur vielleicht verlacht. Und hat seitdem kein Bad mehr von innen gesehen. Ähnlich verhält es sich mit öffentlichem Sprechen. Vor der Klasse, im Seminar, wenn der Puls hochging, der Atem schneller. Wie viele, die das erlebt haben, vermeiden es seitdem, vor anderen zu reden.
Einer, der dieses Phänomen untersucht und beschrieben hat, ist u.a. Till Briegleb. Der Journalist hat unlängst ein Essay zum Thema geschrieben. Es trägt den Titel „Die diskrete Scham“ und erschien in der Reihe „Bibliothek der Lebenskunst“. Briegleb spürt in seiner Schrift der Frage nach, wie ein Leben gelingen kann, das sich im schlimmsten Fall vor lauter kleinen und großen Schamerlebnissen in die Erstarrung, den Hochmut, Zynismus oder Depression flüchtet. Seine zentrale These ist die: Die Scham ist kein Randthema, sondern ein ständiger Alltagsbegleiter der Menschen. Sie kann Leben verhindern. Sie kann es aber auch reicher machen, denn die Begegnung mit Scham und ihren Gründen, so Briegleb, demütigt nicht nur. Sondern sie sensibilisiert auch.
Es gibt neben Brieglebs Essay eine ganze Reihe von Büchern und Schriften, die sich mit einem der letzten unerforschten Themen unserer Art zu sein beschäftigt (siehe Literaturtipps im Anhang). Viele kreisen dabei um die Frage, wie Scham entsteht, etwa die für seinen Körper, seine Konturen, seine Gestalt. Was sie auslöst – und was sie mit uns anstellt. So hat etwa auch der französische Psychiater Boris Cyrulnik über Scham geschrieben. Sein Buch „Mourir de dire la honte“ – zu deutsch: Scham. Im Bann des Schweigens – untersucht Scham im psychosozialen Kontext. Er fasst sie also als ein kulturelles Phänomen und untersucht ihre Auswirkungen auf die Menschen und ihr Verhältnis zueinander.
Bei dem Franzosen ist Scham allerdings nicht an den Auslöser gekoppelt, etwa dem Körper als Auslöser für Körperscham. Sondern an das, was der vermeintliche Grund anstößt: nämlich an einen inneren Dialog, d.i. ein inneres Gespräch über das, was an einem vermeintlich defizitär ist. Oder was andere vermeintlich von uns denken. In vielen diesen Fällen, so Cyrulnik, enden diese inneren Gespräche damit, dass sich die jeweilige Person – bewusst wie unbewusst – abwertet, die vermeintlich richtenden oder spöttischen Blicke andere auf sich gerichtet fühlt und alles daran setzen würde, sich selbst zum Verschwinden zu bringen. Scham als Kopfkino, würde es im Jargon wohl heißen.
Das Buch gipfelt schließlich in den Überlegungen, mit welchen Mitteln wir der Scham begegnen können, wie wir schamhafte Erlebnisse verarbeiten und was das Gute daran ist. Nach Cyrulnik nämlich unter anderem das eigene Ich durch den Blick der anderen zu begrenzen bzw. zu erfahren. Sprich: Die Scham führt uns vor Augen, dass es überhaupt so etwas wie andere Menschen gibt. Und etwas, das wir miteinander teilen: den öffentlichen Raum nämlich, in dem wir uns begegnen. Wem Scham völlig fehlt, so der Franzose, dem fehlt schlichtweg die Außenperspektive auf sich selbst. Sigmund Freud formulierte es drastischer. „Abwesenheit von Scham“, so der Wiener Psychoanalytiker, „ist ein sicheres Zeichen von Schwachsinn.“
Sich zu schämen, ist also mehr als normal. Dennoch wird darüber kaum gesprochen. Briegleb und Cyrulnik stehen allerdings für einen Wandel. Das Thema rückt immer mehr in den Fokus von Soziologen, Philosophen und Psychoanalytikern, die allesamt feststellen, dass die westlichen Zivilgesellschaften eine Reihe schamauslösender Regeln, Normen oder Gesetze zwar aufgelöst haben, die Scham selbst aus unserer Gesellschaft aber nicht verschwunden ist. Denn wie die äußeren Faktoren abgenommen haben, so sind im gleichen Maße die inneren Faktoren, die Scham auslösen, nicht weniger geworden.
Was halten die anderen von mir, was denken sie über mich? Das sind nur zwei Fragen dieser inwendigen Auseinandersetzung mit den Möglichkeiten, unter welchen Umständen ich mich eventuell für etwas schäme. Oder wie mir in abgeschwächter Form etwas peinlich ist, ich mich gekränkt fühle, minderwertig oder gedemütigt.
Etwa im Umgang mit unserem Körper, was allgegenwärtig und mittlerweile mit dem Anglizismus Bodyshaming bezeichnet wird. Es ist allerorten. Vor allem Frauen leiden darunter. Wie Umfragen ergeben haben, fühlen sich bis zu 80 Prozent unter ihrer Haut nicht wohl. Und nicht wenige davon schämen sich dafür, was sie körperlich sind.
Was also kann alles zu einer schamhaften Empfindung führen? Was stellt sie im Augenblick der Erfahrung mit uns an? Wie sehr sind Regeln, Tabus bzw. Normen unserer Kultur oder Gesellschaft daran beteiligt. Und wie können wir ihr so begegnen, dass sie uns nicht „in Schach hält“, sondern uns sensibilisiert für uns und andere?
Was ist Scham?
Gemeinhin wird unter Scham ein Gefühl der Verlegenheit verstanden, das entweder durch Bloßstellung, also der bewussten Verletzung der Intimsphäre entstehen kann. Oder, weit verbreiteter, durch eine selbsterzeugte Abwertung von Facetten unseres Ichs und Leibes durch ein Gefühl des Nichtentsprechens, Nichtgenügens. Weiter gefasst betrifft dies auch Bereiche, in denen durch unehrenhafte, unanständige oder erfolglose Handlungen soziale Erwartungen oder Normen vermeintlich nicht erfüllt werden bzw. ihnen entsprochen wird.
Stellen sie sich eine Frau vor. Um die 30. Ohne großes Selbstvertrauen in sich. Diese Frau nimmt auf einer Party allen Mut zusammen, und spricht einen Mann an, der ihr gefällt. Ob er mit ihr tanzen möchte. Er weist sie brüsk zurück und gibt ihr das Gefühl, nicht attraktiv genug zu sein.
Was die Frau in diesem Moment empfindet, können sie sich ausmalen: Scham.
Was passiert in diesem Moment?
Die Reaktionen auf einen Schammoment, auch Schamsignale genannt, sind so ziemlich jedem Menschen bekannt. Das Erröten des Gesichtes ist die gemeinhin stärkste dieser Reaktionen. Sie kann die Scham übrigens verdoppeln, denn sein Gesicht kann niemand verbergen. Wird es rot, schauen alle hin, was den Schammoment noch verstärkt. Erst die Scham nach dem Ereignis, dann die Scham, die daraus entsteht, dass man sich schämt und alle es angeblich bemerken.
Weitere Reaktionen sind Schwitzen, hoher Puls, feuchte Handflächen, kurzer Atem, Blick abwenden, stottern und nicht selten ein Grinsen, das mitunter als Schafsgesichtig beschrieben wird. Es wirkt gequält.
Wie entsteht Scham?
Bei unserer Frau auf der Party wird das vorrangige Gefühl das der Demütigung sein. Gepaart mit der doppelten Scham, dass man es ihr ansieht. Grund dafür ist das Ereignis, abgewiesen worden zu sein. Und ein fehlendes Selbstvertrauen. Hier greift der von Cyrulnik erwähnte innere Dialog. Ich bin es nicht wert. Genüge nicht. Bin unansehnlich. Diese Gedanken waren vermutlich schon vor der Frage nach dem Tanz allgegenwärtig. Sie wurden durch das Nein nur aktiviert und ins Bewusstsein gebracht.
Welche Formen der Scham gibt es?
Die Scham, sich gedemütigt zu fühlen, ist die intensivste Form des Schamempfindens. Fasst man die anderen Formen zu einer Schamfamilie zusammen, so sind die weiteren Angehörigen u.a. Peinlichkeit, Schüchternheit, Schmach und Verlegenheit
Demütigung: Entsteht durch das Gefühl, durch eine Situation, meist aber durch das Handeln anderer in extremer Form abgewertet zu werden. Meist setzt dies ein unsicheres Ich voraus, das eine Diskrepanz zwischen Idealbild und Selbstbild empfindet.
Peinlichkeit: Oder auch Verlegenheit ist die vielleicht schwächste Form der Scham. Sie ist alltäglich und folgt etwa auf das falsche Anstellen in einer Warteschlange. Sobald der Fauxpas erkannt wird, wird ein Gefühl der Peinlichkeit erzeugt, das bei den anderen freilich oft als sympathisch empfunden wird. Was hierbei nämlich zum Vorschein kommt, ist eine stille Akzeptanz der Regel, die anscheinend gebrochen wurde. Etwa sich immer hinter dem Letzten einer Schlange anzustellen. Fällt eine Peinlichkeitsbekundung aus, darf man sicher sein, sich den Ärger der anderen Wartenden einzuhandeln.
Schüchternheit: Einer, der sich mit dem Phänomen der Scham auseinandergesetzt hat, war der Evolutionsbiologe Charles Darwin. Er bezeichnete die Scham als Affekt oder Emotionen, die uns wesentlich von den Tieren unterscheidet. Sie setzt nämlich ein Ich voraus sowie die Fähigkeit der Reflexion über mich, andere und die Auslöser von Scham voraus: Normen oder Bilder von mir selbst. Darwin meinte, um als schüchtern zu gelten, müssten zwei Bedingungen gleichzeitig erfüllt sein: eine Überempfindlichkeit hinsichtlich der Meinung anderer Personen und die Anwesenheit nicht vertrauter Personen. Wie bei jeder Form der Scham ist die angenommene Meinung anderer über einen selbst dabei tendenziell negativ. Ein unsicheres Selbstbild ist der Grund bzw. eine überstarke Ich-Bezogenheit, die in der Diskrepanz zwischen Schein und Wirklichkeit lebt. Nicht selten wird Scham als Begleiterin des Narzissmus bezeichnet.
Schmach: Das Wort mutet altertümlich an. Es setzt eine empfundene Verletzung der Ehre voraus. Das Gefühl ist das einer schweren Kränkung und wurde früher häufig mit drastischen Konsequenzen versucht zu tilgen. Wurde es etwa durch die eigene Tochter hervorgerufen, beispielsweise durch ein uneheliches Kind, wurde sie nicht selten verstoßen. Duelle waren eine andere Form der Satisfaktion. In manchen Kulturen ist der Ehrenmord die drastischste dieser Maßnahmen, um auf eine erlebte Schmach zu reagieren.
Fremdschämen – was ist das?
Eine besondere Form der Scham ist das Fremdschämen. Es meint, sich für jemand anderes zu schämen. Voraussetzung ist dafür Sympathie und Empathie, vor allem letzteres als das mitfühlende Einfühlen in die Situation des Anderen. Sind sie selbst schon mal gedemütigt worden und wohnen der Situation bei, in der unsere Frau auf dem Fest von dem von ihr zum Tanzen aufgeforderten Mann brüsk zurückgewiesen wurde, werden sie sich mit Sicherheit Fremdschämen. Mögen sie die Frau dazu noch, dann umso mehr.
Was sagt die Scham über uns aus?
Scham setzt ein Bewusstsein voraus. Und zwar von sich selbst. Von anderen und der Beziehung, die zwischen uns besteht. Sie ist hat also nicht nur eine psychologische, mentale Bedeutung, sondern auch eine soziale. Scham reguliert, denn das, was zwischen dem Ich und dem Anderen besteht, sind unter anderem Regeln, Normen, Gesetze, die wir achten und die zu brechen, uns Scham bereitet. Scham ist also ein Zeichen der Bejahung. Einerseits. Andererseits gibt die Scham aber auch einen Hinweis darauf, wie wir uns selbst empfinden bzw. betrachten. Ist das Selbstbewusstsein schwach, erhöht das die Chancen, in schamauslösende Situationen zu gelangen. Die Akzentuierung liegt dabei aber auf dem Ich, nicht der Situation. Habe ich zum Beispiel ein gutes Körperempfinden, ist die Chance geringer, dass mich bestimmte Situationen beschämen können.
Ein weiterer psychosozialer Effekt von Scham ist, seine Grenzen zu erkennen. Und das wertzuschätzen, was ich vermeintlich an Regeln oder Normen in einer Situation gebrochen habe. Schließlich kann ich mich durch Scham einer Welt außerhalb meiner versichern. Denn erst der Blick anderer auf mich löst Scham aus. Sollten sie für längere Zeit auf einer Insel leben, können sie davon ausgehen, dass ihre Schamgrenzen sich verschieben und vermutlich auflösen werden, sobald sie merken, dass die soziale Welt, aus der sie stammen, aufgehört hat, zu existieren.
Scham und Sexualität
Eine der großen Taburäume unserer Kultur ist die Sexualität. Sie ist geprägt von offiziellen und inoffiziellen Verboten. Auch noch in einer Zeit wie der unseren, die sich für besonders libertinär hält. Viele Menschen, vor allem aber Frauen, schrecken immer noch davor zurück, ihrem Partner ihre geheimen sexuellen Wünsche anzuvertrauen und ihre Bedürfnisse zu offenbaren.
Wie kann ich meiner eigenen Scham begegnen?
Sich für etwa zu schämen, setzt immer voraus, dass etwas beschämt werden kann. Sind es Normen, so versichert ihnen ihr Schamempfinden, dass sie diese Normen anerkennen. Sind es die Blicke andere, so können sie versichert sein, dass sie nicht allein auf der Welt leben. Und fühlen sie Scham vergleichbar mit der Scham der Frau aus der oben erwähnten Fest-Situation, so ist es sinnvoll zu fragen, was da beschämt wurde. In dem beschriebenen Fall hat nicht nur der Mann die Frau vor den Augen anderer brüskiert. Sondern er hat auch einen wunden Punkt getroffen – und zwar ein unsicheres Selbst. Damit lässt sich in der Regel arbeiten. Fehlendes Selbstvertrauen zurückzugewinnen, ist zwar kein leichtes Unterfangen, denn die meisten Gründe dafür finden sich in Erlebnissen der Kindheit, und dem vorangegangen in den Fragen, warum das eigene Ich kein positives Selbstbild entwickelt hat. Aber es ist möglich, mit den Brüchen im Ich besser umzugehen. So kann Leben gelingen – und muss vor lauter Scham nicht flüchten.
Literaturtipps:
Boris Cyrulnik: Scham – Im Bann des Schweigens: Wenn Scham die Seele vergiftet. Verlag: Präsenz Kunst und Buch
Caroline Bohn: Die soziale Dimension der Einsamkeit. Unter besonderer Berücksichtigung der Scham. Verlag: Kovac
Hans Peter Duerr: Nacktheit und Scham. Verlag: Suhrkamp
León Wurmser: Die Maske der Scham. Die Psychoanalyse von Schamaffekten und Schamkonflikten. Verlag: Springer
Michael Lewis: Scham. Annäherung an ein Tabu. Verlag: Knaur
Michaela Bauks, Martin F. Meyer (Hrsg.): Zur Kulturgeschichte der Scham. Verlag: Meiner
Till Briegleb: Die diskrete Scham. Verlag: Suhrkamp
Ullrich Greiner: Schamverlust. Vom Wandel der Gefühlskultur. Verlag: Rowohlt
freier Journalist für die Berliner Zeitung, Mitteldeutsche Zeitung und das CarlMarie Magazin