Die Niedersächsin, die eigentlich Karoline Sofie Marie Wiegmann heißt, konzentriert sich in ihren Tänzen als eine der Ersten auf die ursprünglichen Bewegungen des menschlichen Körpers, verzichtet zum Teil gänzlich auf jegliche musikalische Begleitung und besteht darauf, dass Tanz auch hässlich sein kann. Sie wird dafür angefeindet, aber auch frenetisch gefeiert. In Dresden lässt sie zwischen 1920 und 1935 mit ihrer Schule das Mekka der Tanzkunst entstehen und wird nach dem Krieg als Begründerin des modernen Ausdruckstanzes anerkannt. Bühne auf und Applaus für…
Mary Wigman
Mary Wigman war eine tiefgründige bis schwermütige Frau, die alle ihre Entscheidungen stark reflektierte. In einer ihrer zahlreichen Niederschriften notierte sie bereits früh in ihrer Karriere: „Der Tanz ist eine der ursprünglichen Formen des menschlichen Ausdrucks. … Doch der Tanz von heute musste zunächst die Fesseln einer starren Tradition abschütteln. Erst wenn die Diktatur der Musik beseitigt ist, kann der Bühnentanz neue Formen annehmen und sich mit verwandten Künsten neu verbinden.“ Dabei war Mary Wigman nicht gerade als Revolutionärin geboren und musste zunächst ihre Unentschiedenheit besiegen, bevor sie zum international gefeierten Star des „New German Dance“ aufstieg.
Sieh dir diesen Beitrag auf Instagram an
Später Durchbruch mit 33 Jahren
Die später vom Tanz Besessene kam 1886 in Hannover als Karoline Sofie Marie Wiegman zur Welt. Ihre Eltern betrieben in der Nähe des Hauptbahnhofes ein Geschäft für Nähmaschinen und Fahrräder und waren kaum eine ideelle Unterstützung für ihre früh von Musik und Poesie begeisterte Tochter. Die war bereits 25, als sie zum ersten Mal eine Aufführung der Dalcroze-Schule sah und sofort entschied, dort in Hellerau, in der Nähe von Dresden, Rhythmische Gymnastik zu studieren. Doch Marie Wiegman, die sich bereits Mary Wigman nannte, hatte längst Größeres im Sinn. Auf Anraten des Malers Emil Nolde ging sie zunächst in die Schweiz zu Rudolf von Laban, der wesentlich an der Entwicklung des modernen Ausdruckstanzes beteiligt war.
Später gab sie zu, dass die jahrelangen Auseinandersetzungen mit ihrem Lehrmeister ihr so hart zusetzten, dass sie 1918 einen physischen Zusammenbruch erlitt, der sie dazu veranlasste, Ruhe in einem Schweizer Sanatorium in der Nähe von Davos zu suchen. Dort entwickelte Wigman ihr erstes eigenes Programm aus Solo-Tänzen und wurde im Herbst 1919 in Hamburg vor einem deutschen Publikum zum ersten Mal als „neue große Tänzerin“ gefeiert. Zu diesem Zeitpunkt war sie bereits 33 Jahre alt. Noch nicht zu spät, um auch in Übersee für Furore zu sorgen. Doch zunächst gründete sie in der Bautzener Straße in Dresden ihre eigene Schule, die zwischen 1920 und 1935 zum Mekka des rhythmisch-expressiven Ausdruckstanzes wurde.
Sieh dir diesen Beitrag auf Instagram an
Der Hexentanz
In den USA erreichte sie in den folgenden zehn Jahren während ausgedehnter Tourneen große Popularität. John Martins, einflussreicher Tanz-Kritiker der New York Times, nannte einen Auftritt Mary Wigmans 1931 „eines der denkwürdigsten Abenteuer in der Geschichte des Tanzens in Amerika“ und auch in Europa wurde sie längst als Begründerin des modernen Tanzes anerkannt. Besondere Berühmtheit erlangte in dieser Zeit ihr „Hexentanz“, der einer Geisterbeschwörung gleicht. Dieses kurze Solo ist ein Meisterwerk der Fremdheit. Wigman strebte beim Tanzen nach einem Zustand der ritualisierten Trance, um den gefährlichen Geist ihres Charakters zu beschwören. Wigmans Hexe scheint hier eine Schwester des beunruhigenden, furchterregenden Geistes von Max Schrecks Nosferatu zu sein.
Mary Wigman war eine hagere, rauh wirkende Frau mit scharfen Gesichtszügen und damit überhaupt nicht der Typ der damals herkömmlich hübschen Ballerina. Für sie bestand die Funktion des Tanzes nicht darin, sich zu bewegen, sondern zu kommunizieren.
Eine neue Art von Tänzerin als selbstbestimmt Künstlerin
Wigman repräsentierte damit eine völlig neue Form der Tänzerin als Künstlerin, die ihre Darbietungen selbst choreografierte. Im Gegensatz zur Ballerina konzentrierte sich Wigman auf die Körperbewegung selbst und zeigte sich damit gänzlich unabhängig von theatralischen Szenarien, Kostümierungen und selbst von Musik. Sie verwendete oft wenig oder keine Bühnenbilder und entwickelte ihre Kompositionen durch Improvisationen statt durch definierte Schritte. Anstatt mit einem Musikstück zu beginnen, fand sie ihren eigenen Arbeitsrhythmus und fügte später eine minimale musikalische Begleitung hinzu. Dafür nutzte sie bevorzugt Trommeln, Gongs, Becken und manchmal ungarische Flöten, die oft von den Tänzern selbst auf der Bühne gespielt wurden. Wigman wurde damit eine wichtige Vorbereiterin einer breiten expressionistischen Bewegung in Deutschland und fand zahlreiche Bewunderer, unter ihnen die Maler Emil Nolde und Ernst Ludwig Kirchner.
Erst Massenchoreographie für die Nazis, dann „entartete“ Kunst
Ihre Rolle im Dritten Reich blieb ambivalent. Für die Eröffnungsfeier der Olympischen Spiele 1936 in Berlin choreographierte sie einen Massentanz, und obwohl sie persönlich mit vielen ihrer jüdischen Schüler befreundet war, lehnte sie sich nicht gegen den Befehl auf, jüdische Tänzer aus ihren Tanzgruppen zu entfernen. Erst eine Verordnung von Joseph Goebbels, nach der Tanz „fröhlich sein und schöne Körper zeigen muss“ stoppte ihre Karriere. Ihre Schule in Dresden wurde als Institution der „entarteten“ Kunst geschlossen. Eine neue Bleibe fand sie danach in Leipzig. 1946 erhielt sie dort als Wiedergutmachung einen Professorentitel.
Sie widmete sich nun ihrer liebsten Aufgabe, der Regie und choreographierte für Opern-Inszenierungen, die vom noch gesamtdeutschen Publikum hymnisch gefeiert wurden. Dem Einfluss der neuen Führung in der DDR entzog sich die längst berühmte Mary Wigman früh und ging von Leipzig nach Westberlin. Dort eröffnete sie eine neue Schule in Dahlem und zeigte 1953 eine letzte öffentliche Tanz-Performance. An ihrem 80. Geburtstag ehrte sie die Stadtverwaltung von West-Berlin 1966 mit einer besonderen Feier. Sieben Jahre später starb die 87-jährige als eine der letzten großen Figuren der Pionierzeiten des Ausdruckstanzes. An ihren unvergleichlichen Einfluss auf die moderne Tanzszene erinnern nach ihre benannte Straßen in Dresden und Mannheim.
freier Journalist für die Berliner Zeitung, Mitteldeutsche Zeitung und das CarlMarie Magazin