Die Entwicklung von Kunstfasern dauerte am Ende bis ins 20. Jahrhundert. Die älteste von ihnen – Viskose – ist seit langem ein häufig eingesetztes Produkt in der Welt der Textilien. Wie wurde sie entwickelt, wo überall wird sie eingesetzt, und was ist eigentlich Rayon?
Kunstfasern lösen Herrschaft von Baumwolle und Seide ab
Die Verwendung von Fasern für die Herstellung von Kleidern ist so alt wie kaum eine menschliche Kulturleistung sonst. Funde belegen, dass Hanf, Jute, Sisal und auch Leinen schon vor über 30.000 Jahren zu Schnüren, Seilen und auch Garn verflochten wurden. Fasern tierischen Ursprungs wurden spätestens ab dem Neolithikum, also etwa 10.000 Jahre vor unserer Zeitrechnung eingesetzt. Neben Schafswolle war das vor allem Kaschmir (Kaschmirziege), Angora (Angorakaninchen) und vor allem Seide, deren Fäden aus dem Extrakt von Seidenraupen gewonnen wurde.
Dabei ist es vor allem die aufwendige und langwierige Herstellung, der daraus resultierende hohe Preis und die edle Haptik von Seide, welche Erfinder schon frühzeitig über deren künstliche Herstellung nachdenken lässt.
Das Zelluloid bringt den Durchbruch
Doch erst 1665 formuliert der Engländer Robert Hooke die erste Idee zur Entwicklung einer Kunstfaser. Sein Vorschlag aus einer leimartigen Masse feine Fäden zu ziehen, die es mit dem Produkt der Seidenraupe aufnehmen könnten, scheiterte allerdings wie alle ähnlichen Versuche in den folgenden 200 Jahren am Fehlen einer geeigneten Spinndüse. Richtig Fahrt nimmt die Entwicklung der ersten brauchbaren Kunstfasern erst im späten 19. Jahrhundert auf. Eine Vorbote ist das ab den 1870er Jahren auf den Markt kommende Zelluloid, als erster halbsynthetischer Kunststoff. Baumwolle– oder auch Holzfasern (dann Zellstoff) per chemischem Verfahren umgewandelt ergeben ein völlig neuartiges Gewebe, welches zunächst vor allem als Filmmaterial Anwendung findet.
Etwa zeitgleich gelingt es es Hilaire de Bernigaud, dem Graf von Chardonnay nach 29-jähriger (!) Forschung den ersten synthetischen Faden zu ziehen, den er Kunstseide (soie artificielle) oder auch Chardonnay-Seide nennt. Dabei handelte es sich nicht wie bei Zelluloid um ein als Fläche hergestelltes Material, sondern um ein Garn. Sein Einsatz als Glühfaden für Lampen findet ein schnelles Ende, weil es zu leicht entflammbar ist, doch die Textilindustrie zeigt dafür umso größeres Interesse.
Schon 1935 regiert Viskose den Markt
Mit verschiedenen Verfahren versucht man die aus Zellulose gewonnenen Fäden nun für die Herstellung von Stoffen brauchbar zu machen. Nacheinander werden Nitro-, Kollodium-, Kupfer-, Acetat- und letztlich das Viskose-Verfahren entwickelt. Der technologische Unterschied besteht eigentlich nur in der Verwendung unterschiedlicher Grundstoffe und Lösungsmittel. Ansonsten sieht der Verarbeitungsprozess ähnlich aus: Die Cellulose, ein aus Baumwoll- oder Holzfasern gewonnener Naturstoff, wird durch Zusatz von Chemikalien in eine klebrige Masse umgewandelt, die dann durch Düsen gedrückt wird, um Fäden zu erzeugen. Beim Nassspinnverfahren bilden sich die Fäden in Fallbädern und beim Trockenspinnverfahren verdunsten die Lösungsmittel an der Luft. Als besonders günstig erweist sich dabei eine bestimmte chemische Verbindung aus Cellulose-Xanthogat, die auch Viskose (viscosus = zähflüssig) genannt wird.
Schon in den späten 1930er Jahren hat sie alle anderen Verfahren vom Markt verdrängt. Als unschlagbarer Vorteil erweist sich dabei vor allem, dass für Viskose als Grundstoff billiger Holzzellstoff verwendet wird, während für die Filamentgarne auf Cupramonium- und Nitratbasis das deutlich teurere Baumwoll-Linters verarbeitet werden muss. Der Siegeszug der neuartigen Kunstfaser war nun nicht mehr aufzuhalten. Schon in den später 1930er Jahren enthielt ein Großteil der in Europa und Amerika gefertigten Textilien Viskose-Anteile. 1940 überholte Viskose dann erstmals Wolle als am häufigsten verarbeiteter Textilstoff.
Preiswerte Strümpfe und Unterwäsche für die Damen
Wichtig wird der Einsatz von Viskose in der Textilindustrie vor allem für die Frauen. Seidenähnliche Damenunterwäsche wird nun für die erschwinglich, deren Budget das bisher nicht zuließ. Ab den 1920er Jahren werden die Röcke kürzer und als 1927 das Knie freigelegt wird, ermöglichen es preisgünstige Viskose-Strümpfe auch weniger betuchten Damen, an dieser Modeentwicklung teilzunehmen.
Der heutige Anteil von Viskose an der Weltproduktion
Mit dem Aufkommen von reinen Chemiefasern wie Nylon, Perlon, Polyester oder Polyacryl nach dem 2. Weltkrieg schrumpfte der Anteil der Viskose in Textilien. Heute regieren Kunstfasern mit einem Anteil von 68% (Baumwolle 31%, Wolle 1%) den weltweiten Textilmarkt. Sogenannte zellulosische Fasern wie Viskose nehmen dort allerdings mit etwa 10% nur noch einen hinteren Platz ein. Während die größten Produzenten von Chemiefasern – China, Bangladesch, Indien und Indonesien -hauptsächlich auf rein synthetische Materialien setzen, ist der Anteil von zellulosischen Fasern, und dabei hauptsächlich von Viskose, in der deutschen Textilproduktion mit über 30 % deutlich höher als in anderen Herstellungsländern.
Viskose – der Alleskönner
Doch welche Textilien enthalten heute überhaupt noch Viskose? Trotz der Konkurrenz von vollsynthetischen Fasern hat Viskose einige Felder in der Textilproduktion für sich behaupten können. Vor allem drei Eigenschaften werden dabei geschätzt: Viskose, die „Kunstseide“, ist kühlend, sie glänzt und durch die mangelnde Dehnbarkeit „fallen“ Viskose-Stoffe „locker und salopp“. Genau das wird nach wie vor bei Sommerkleidern, Blusen und Hosen geschätzt.
Auch bei Tüchern und Schals wird Viskose aufgrund des geschmeidigen Falls gern verwendet. Edel und seidig glänzend ist Viskose außerdem immer noch ein beliebtes Material für Futterstoffe und ein wichtiger Bestandteil der Brautmode. Wer dekorative Tischdecken und Kissenbezug mag, wird auf Viskose ebenfalls nicht verzichten wollen.
Allerdings findet Viskose heute vor allem im nichttextilen Bereich seine hauptsächliche Verwendung. Im medizinischen und hygienischen Bereich findet es sich im Verbandmull, in Tampons und Wattestäbchen sowie in zahlreichen Putz- und Feuchttüchern. Viskose ist ein elementarer Bestandteil von Banknoten und auch einer der ältesten Verpackungsstoffe. Cellophan ist ein Viskose-Produkt.
Viskose vs. Rayon
Vor allem auf den Etiketten ausländischer Textilien ist Viskose fast nie als ein Bestandteil eines Stoffes aufgeführt. Umso mehr liest man dort „Rayon“. Der Grund dafür ist einfach: In den Ursprungsjahren der Kunstseide Ende des 19. Jahrhunderts verwendeten diese vor allem englische und US-amerikanische Textilproduzenten. Auf der Suche nach einem griffigen Namen entschied 1924 ein vom Handelsministerium der USA gegründetes Komitee den Namen „Artificial Silk“ durch „Rayon“ zu ersetzen. Zusammengesetzt aus „Ray“ (dt. „Strahl“) und Cott-on (dt. „Baumwolle“) sollte es bei den Käufern wohl die Assoziation zur Helligkeit und Qualität von Baumwolle herstellen. In Deutschland hielt sich lange Zeit der angepasste Begriff „Reyon“, bevor sich die Bezeichnung Viskose durchsetzte. Technologisch gesehen werden alle nach dem Nitro-, Kollodium-, Kupfer-, Acetat- und Viskose-Verfahren hergestellten halbsynthetischen Kunstgarne als „Rayon“ bezeichnet. Viskose ist demnach eine Unterform des „Rayon“. Nur in den USA findet man noch bis heute die Kennzeichnung „Rayon“, wo eigentlich Viskose enthalten ist.
Dieser Artikel ist Teil I von II zum Thema Viskose.
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freier Journalist für die Berliner Zeitung, Mitteldeutsche Zeitung und das CarlMarie Magazin